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Die Koalitionsvereinbarung von CDU und Grünen aus regionaler Sicht

Der Koalitionsvertrag von CDU und Bündnis 90/Die Grünen für die 20. Legislaturperiode für die Jahre 2019 bis 2023 trägt den Titel „Aufbruch im Wandel durch Haltung, Orientierung und Zusammenhalt“. Dass er mit 193 Seiten deutlich umfangreicher ist als der Vertrag von 2014, ist vor allem der Beschreibung der in der 19. Legislaturperiode „erfolgreich“ begonnenen Projekte, die man jetzt fortführen will. Oppositionsführer Schäfer-Gümbel (SPD) sprach deshalb von einer „Koalition des Weiter-So“. Ausführliche Auszüge und Kommentare findet man in der HLZ 3/2019 und im Internet unter www.gew-hessen.de.

Viele Erwartungen wurden enttäuscht, aber es gibt auch einige positive Aspekte. Sie sind zumeist sehr vage formuliert und stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Sie haben nur dann eine Chance, Realität zu werden, wenn wir Druck machen und die Möglichkeiten konkret genutzt werden. Ansonsten werden sich die Koalitionäre zurücklehnen und am Ende verkünden: „Wir haben ja das Angebot gemacht, aber es war niemand da, der es nutzen wollte.“

Harald Freiling, GEW-Vorsitzender im Kreis Groß-Gerau, hat einige Punkte zusammengestellt, die in Schulleitungen und Kollegien, auf Personalversammlungen und Konferenzen, mit Eltern- und Schülervertretungen diskutiert und ausgelotet werden könnten. Außerdem berichtet er über ein Gespräch der Personalräte der Integrierten Gesamtschulen im Kreis Groß-Gerau und im Main-Taunus-Kreis mit dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen Mathias Wagner im Februar 2019.

Mitbestimmung

Konkrete Schritte zur Stärkung bzw. Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Personalräte und Kollegien sucht man im Vertrag vergeblich. Ein Vorschlag der Personalräte der Integrierten Gesamtschulen im Kreis Groß-Gerau und im Main-Taunus-Kreis zur Erweiterung der Rechte der Gesamtkonferenzen (GEW regional Dezember 2018) wurde nicht aufgegriffen. Aber wir sollten die Koalition beim Wort nehmen, wenn sie die Personalvertretungen und Gewerkschaften für ihr Engagement lobt, „die Interessen der Beschäftigten gegenüber den Dienstherren zu wahren“, und ankündigt, „das Hessische Personalvertretungsgesetz fort(zu)entwickeln und im Dialog mit den Gewerkschaften die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst zeitgemäß aus(zu)gestalten“.

Ganztagsschule

Die Ankündigungen zum Ausbau der Ganztagsangebote bleiben vage. Dass der „Pakt für den Nachmittag“ jetzt zum „Pakt für den Ganztag“ werden soll, stimmt nicht hoffnungsfroh. Angesichts der Praxis an vielen Schulen, die aufgrund der Unterfinanzierung des Ganztags Elternbeiträge erheben, sollte der folgende Satz im Koalitionsvertrag unterstrichen werden:

„Für alle Varianten, egal ob freiwillig oder verpflichtend, gilt: Für den vom Land verantworteten Teil des Pakts stellen wir die Gebührenfreiheit bis mindestens 14.30 Uhr sicher.“

An einer Stelle greift die Koalition überraschenderweise ein Wahlversprechen der SPD auf. Aber auch diese Option, Schulen zu echten Ganztagsschulen mit einer bisher wenigen Schulen vorbehaltenen besseren Lehrerversorgung weiterzuentwickeln, wird nur Realität, wenn Schulen dieses Angebot ausloten und einfordern:

„Wir stellen ausreichende Ressourcen dafür zur Verfügung, dass pro Schuljahr bis zu 50 Grund- oder weiterführende Schulen in das Profil 3 des Ganztagsschulprogramms neu aufgenommen werden können.“

Neue Spielräume für Pädagogik?

Für die Umwandlung von Schulen in selbstständige Schulen nach § 127d des Hessischen Schulgesetzes wurde immer wieder auch mit der Behauptung geworben, dass man dann auch „größere Spielräume für die Pädagogik“ habe. Das war falsch, denn der „Experimentierparagraf“ des Schulgesetzes (§ 127c) ist schon viel älter als die Selbstständige Schule mit dem Großen Schulbudget und anderen Fallstricken (§ 127d).  Jetzt kleiden die Koalitionäre den nie genutzten „Experimentparagrafen“ in ein neues Gewand und zitieren dabei unter anderem wortwörtlich aus dem § 127c:

„Wir wollen Schulen die Möglichkeit geben, pädagogisch neue Wege bei der Erreichung der Bildungsziele zu gehen. An Schulen, die diese Möglichkeit nutzen, sollen (…) Abweichungen bei der Unterrichtsorganisation und -gestaltung, insbesondere bei der Bildung von Lerngruppen, bei Formen der äußeren Differenzierung, bei der Ausgestaltung der Leistungsnachweise sowie bei den Lehrplänen und Stundentafeln zulässig sein, sofern die Standards der Bildungsgänge eingehalten werden. (…) Wir werden neben der heutigen Form der Selbstständigkeit eine zusätzliche Form der pädagogischen Selbstständigkeit etablieren, für die das große Schulbudget keine Voraussetzung ist (…).“

Das Große Schulbudget und die damit verbundene Umwandlung von Stellen in Geld ist also nicht mehr erforderlich, um beispielsweise eine andere Rhythmisierung des  Unterrichts einzuführen, auch im zweiten Schuljahr auf Noten zu verzichten oder jahrgangsübergreifende Lerngruppen zu bilden. Bereits in der ersten schulpolitischen Debatte des Landtags beschworen deshalb einige Abgeordnete das Menetekel, die Grünen wollten „die Noten abschaffen“ – obwohl davon im Vertrag kein Wort steht.

Grundschule

Wir sind sehr gespannt, wann die folgende Ankündigung umgesetzt und durch entsprechende Lehrerstellen hinterlegt wird:

„Im Rahmen eines stringenten Förderkonzeptes, das in der Grundschule beginnt, werden wir die Bildungssprache Deutsch stärken. Dafür werden wir die Stundentafel für die Grundschule um eine Stunde Deutsch erweitern und eine Ausweitung der Stundentafel in den Jahrgangsstufen 5 und 6 ebenso prüfen wie die Einführung von spezifischen Förderkursen mit verpflichtendem Charakter.“

Lange warten werden wir nicht! Das gilt auch für die nebulöse Aussage zur Besoldung der Grundschullehrkräfte und zur Forderung nach ihrer Bezahlung nach A 13. Eine „zeitnahe Realisierung“ hält die Koalition für nicht finanzierbar. An die folgende Aussage werden wir den Kultusminister insbesondere auch in seiner Funktion als Präsident der Kultusministerkonferenz erinnern, nachdem das Land Brandenburg die Besoldung nach A13 bzw. E13 zum 1.1.2019 umgesetzt hat und Berlin zum 1.7.2019 nachziehen wird:

„Wir halten in dieser Frage ein abgestimmtes und einheitliches Vorgehen der Bundesländer für sinnvoll. Auch um den Lehrerbedarf für unsere Schulen zu sichern und Abwanderungen zu vermeiden, werden wir zu diesem Thema das Gespräch mit unseren Nachbarbundesländern suchen.“

Nicht Fisch und nicht Fleisch: Das gilt auch für die Ankündigung, den „Arbeitsaufwand des Schulen“ bei den bundesweiten Vergleichsstudien (VERA 3 und VERA 8) „zu senken und den praktischen Nutzen zu erhöhen“. In der Vergangenheit wurden Schulleitungen, deren Kollegien genau die angesprochene „länderübergreifende Vereinbarung“ der KMK nutzen wollten, zum Rapport bestellt. Auch hier müssen wir nachhaken!

Ausloten sollten wir auch die Möglichkeit, dass Förderschullehrkräfte (soweit sie zu finden sind und sie dies wollen) auch wieder ihre Stammschule an einer Grundschule haben können:

„Jeder Grundschule (soll) pro 250 Schüler mindestens eine Förderpädagogen-Stelle fest zugewiesen werden (…). Diese Lehrkräfte sind Teil des Kollegiums der Grundschule.“ Außerdem soll die Zuweisung von UBUS-Stellen aufgestockt werden:

„Künftig erhält jede Grundschule mit mindestens 250 Schülerinnen und Schülern oder hohem Anteil an Schülerinnen und Schülern in der inklusiven Beschulung eine Stelle für eine sozialpädagogische Fachkraft zugewiesen.“

Arbeitsbedingungen

Die Antwort auf die zunehmende Überlastung der Kollegien und die zahlreichen Beschwerden und „Hilferufe“ bleibt die Koalitionsvereinbarung schuldig. Die Tatsache, dass die Arbeitszeiterhöhung von 2004 noch immer nicht vollständig zurückgenommen wurde,  wird nicht einmal mehr erwähnt. Aber auch die wenigen Brosamen werden nicht von selbst kommen.

Falsch ist zunächst die Aussage, die Koalition habe „bereits in der letzten Legislaturperiode eine Entlastungsstunde für Mentorinnen und Mentoren als Ausgleich für die Übernahme der Aufgabe der Betreuung und für die Weiterqualifizierung (…) eingeführt“. Sie wurde zwar vor der Wahl angekündigt, aber erst Ende Februar nachträglich zum 1.2.2019 zugewiesen. Jetzt müssen sich die Kolleginnen und Kollegen darum kümmern, dass sie diese auch bekommen! Angesichts von in der Regel zwei Fächern und zwei Mentorinnen und Mentoren, bleibt für jede betreuende Lehrkraft zudem wohl nur eine halbe Stunde übrig. Hier muss nachgebessert werden!

Gespannt sind wir auf den angekündigten „ständigen Beirat aus Schulpraktikerinnen und Schulpraktikern“, der das Kultusministerium bei der „Entbürokratisierung“ des Schulalltags „durch Straffung und Abschaffung von Berichts- und Dokumentationspflichten“ beraten soll. Eine Liste von Vorschlägen für eine „Entlastung zum Nulltarif“ haben wir übrigens schon in der Oktoberausgabe von GEW regional vorgelegt…

Von der angekündigten Aufstockung der Sekretariate durch „500 zentral finanzierte Verwaltungskräfte“ dürfte aufgrund der absoluten Unterversorgung der Schulsekretariate für die Regelaufgaben bei den Lehrkräften kaum etwas ankommen.

In dem Gespräch mit Mathias Wagner (siehe unten) haben wir auch noch einmal nachgefragt, was mit der nebulösen Aussage gemeint ist, „Zuweisungen, die den Schulen über die Grundunterrichtsversorgung hinaus zur Verfügung stehen, klarer an ihre Wirksamkeit für guten Unterricht“ zu binden und „Deputatstunden gezielter für pädagogische Aufgaben“ zu verwenden. Gemeint sei damit vor allem die auch seiner Sicht intransparente Verwendung des Zuschlags zur Grundunterrichtsversorgung unter anderem für Verwaltungstätigkeiten. Auch hier müssen Personalräte auf allen Ebenen dran bleiben!

Befristete Arbeitsverträge

In dem Absatz zur „Entlastung der Lehrkräfte“ findet man auch die Ankündigung, „die Zahl der befristeten Arbeitsverträge an Schulen“ weiter zu reduzieren. Die tatsächliche Entwicklung geht aufgrund des Mangels an ausgebildeten Lehrkräften in die andere Richtung. Die IGS-Personalräte forderten deshalb erneut, dass Lehrkräften ohne Lehramt umfassende Qualifikationsangebote zu akzeptablen Bedingungen gemacht werden, so dass sie eine Gleichstellung erreichen und eine berufliche Perspektive entwickeln können.

Dass befristet Beschäftigte in den Sommerferien kein Gehalt bekommen, ist im Bereich unseres Schulamt offensichtlich schon länger abgestellt worden. Wo dies trotzdem der Fall ist, sollte man sich auf CDU und Grüne berufen, die „Anstellungslücken in den Ferien grundsätzlich vermieden“ wollen. Außerdem wollen sie „in der Landesverwaltung so weit wie möglich auf sachgrundlose Befristungen verzichten“.

IGS-Personalräte im Gespräch mit Mathias Wagner

Nach Beginn der Koalitionsverhandlungen hatten die Personalräte der elf Integrierten Gesamtschulen im Kreis Groß-Gerau und im Main-Taunus-Kreis ihre schon wiederholt vorgetragenen Forderungen noch einmal an die Verhandlungsführer von CDU und Grünen geschickt. Mathias Wagner hatte das Gespräch bereits während der Koalitionsverhandlungen angeboten, aufgrund von Terminkollisionen kam es dann erst im Februar 2019 zustande. Im Gespräch der IGS-Personalräte mit Mathias Wagner nahm das Kapitel mit dem folgenden Titel einen besonders großen Raum ein: „Die besten Schulen an den Orten mit den größten Herausforderungen“. So nennt man heute die Schulen, die man früher als „Brennpunktschulen“ bezeichnete. Entsprechend hatten die IGS-Personalräte in ihren Briefen an die Landtagsfraktionen und das HKM insbesondere die Themen Sprachförderung, Sozialindex, Inklusion und Schulsozialarbeit und sozialpädagogische Unterstützung angesprochen. Hier ein kurzer Überblick, was man dazu in der Koalitionsvereinbarung lesen kann:

  • Die IGS-Personalräte berichteten über massive sprachliche Defizite vieler Schülerinnen und Schüler und forderten zusätzliche Ressourcen für eine gute Nachförderung nach dem Wechsel aus Intensivklassen in die Regelklassen. Sie warnten davor, die Ressourcen für Intensivklassen aufgrund einer sinkenden Zahl von Geflüchteten zu reduzieren. Mathias Wagner verwies auf die Zusage, dass „Schülerinnen und Schüler aus Intensivklassen (…) auch weiterhin nur mit ausreichenden Deutschkenntnissen in den Regelunterricht übernommen werden“ sollen und dass es keinen „Automatismus“ für einen solchen Wechsel geben dürfe.
  • Die Lehrerzuweisung nach Sozialindex soll zwar vereinfacht werden, die dringend notwendige deutliche Ausweitung bleibt aus. Die Summe der Stellen soll von 700 auf 800 ausgeweitet werden.
  • Sehr skeptisch zeigten sich die IGS-Personalräte auch im Hinblick auf die angekündigte „feste Zuweisung von sonderpädagogischen Lehrkräften für den inklusiven Unterricht“, der im Bereich der Sekundarstufe I vor allem von den Integrierten Gesamtschulen oder Haupt- und Realschulzweigen geschultert werden muss. Die Aussage, „dass Sonderpädagogen möglichst mit vollem Stundendeputat an der allgemeinen Schule tätig“ sein sollen, las man fast wortgleich im ersten schwarz-grünen Koalitionsvertrag Anfang 2014, ohne dass dies in allen Bereichen umgesetzt wurde oder umgesetzt werden konnte. Die Möglichkeit, dass zukünftig Förderschullehrkräfte, die dies vwollen, auch wieder an allgemeinen Schulen eingestellt werden und zu deren Stammpersonal gehören, soll zunächst an Grundschulen erprobt werden. Erst danach werde man „eine Übertragung auf die weiterführenden Schulen und eine Ausweitung an den Grundschulen prüfen“. Die IGS-Personalräte erneuerten ihre dringende Forderung, dass eine wirksame Unterstützung der Lehrkräfte im inklusiven Unterricht nur durch eine weitgehende Doppelbesetzung im Unterricht und nur in kleineren Klassen erfolgen kann.  Deshalb sei die Forderung der Koalition richtig, dass die Lehrkräfte der Beratungs- und Förderzentren „verstärkt im Unterricht an der allgemeinen Schule eingesetzt werden“. Dies werde aber nicht ohne eine massive Ausweitung der Stellen für inklusiven Unterricht gehen.
  • Die IGS-Personalräte begrüßten die Einstellung der UBUS-Kräfte, an wenn dies zunächst „ein Tropfen auf den heißen Stein“ ist. Die Absicht, dass „alle Schulen mit dem Bildungsgang Haupt- und Realschule mindestens eine Stelle“ bekommen, soll nach den Worten von Mathias Wagner durch zusätzliche UBUS-Stellen und nicht durch eine Umschichtung der vorhandenen Stelle erfolgen.

Harald Freiling