Presseerklärung „Vieles ist auf Kante genäht“

GEW fordert Zeit für gute Bildung und kritisiert schlecht vorbereitete Einführung des sogenannten „Werteunterrichts“

„An den Schulen fehlt es an ausgebildetem Personal“, erklärt Grundschullehrer Peter Engelhardt aus dem Main-Taunus-Kreis, „wir sind froh, wenn wir Seiteneinsteiger:innen finden, die uns unterstützen. Für die ausgebildeten Lehrkräfte bedeutet dies jedoch zusätzliche Arbeit, weil wir ihnen bei der Unterrichtsvorbereitung helfen und sie einarbeiten.“ Nathalie Thoumas, Lehrerin an einer Gesamtschule in Groß-Gerau stellt fest: „In den letzten Jahren haben wir immer mehr Aufgaben übernommen. Dazu gehören die Inklusion und die Integration von geflüchteten Schülerinnen und Schülern. Das sind pädagogische Aufgaben, für die wir uns gerne einsetzen, die aber auch Zeit kosten.“  

Laut einer empirischen Erhebung der GEW für den Raum Frankfurt arbeiten Lehrkräfte pro Woche im Durchschnitt 48 Stunden und 27 Minuten. Eine so lange Arbeitszeit geht auf Dauer mit erheblichen gesundheitlichen Risiken einher. So wird der Lehrberuf immer unattraktiver. Die hohe Arbeitsbelastung und die gesundheitlichen Folgen schrecken den Lehrkräfte-Nachwuchs ab. Weniger als die Hälfte der Lehramtsstudierenden erwirbt das zweite Staatsexamen. Wir erleben, dass viele Referendar:innen nach dem „Praxis-Schock“ das Handtuch schmeißen und einen anderen Beruf wählen. 

Um bestmögliche Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen, benötigen die Lehr- und sozialpädagogischen Fachkräfte mehr Zeit für ihre Arbeit. Deshalb brauchen wir eine Bildungsoffensive, die das Verhältnis von Lehrkräften zu Schüler:innen deutlich verbessert und die Pflichtstundenzahl der Lehrkräfte reduziert. Zudem fordern wir bessere Bedingungen für Sozialpädagog:innen und mehr multiprofessionelle Teams an Schulen. Pädagogische Arbeit erfordert individuelle Zuwendung und braucht Zeit. Unabdingbare Voraussetzung hierfür sind mehr öffentliche Mittel für das Personal an Schulen, aber auch für die Bildungsinfrastruktur. 

Vor diesem Hintergrund wirkt die Vorgehensweise des Hessischen Bildungsministeriums wie ein Hohn. Im September teilte das Hessische Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen (HMKB) den Schulleitungen der öffentlichen Schulen in Hessen mit, dass es in diesem Schuljahr einen verbindlichen zweistündigen Werteunterricht in allen Intensiv- und InteA-Klassen geben soll. In diesen Klassen lernen an den allgemein- und berufsbildenden Schulen derzeit etwa 36.000 geflüchtete und zugewanderte Schüler:innen Deutsch, um so den Einstieg in ihre neuen Schulen zu gewinnen. 

Im Schreiben des Ministeriums wird als Begründung genannt, dass den betroffenen Schüler:innen das notwendige Vokabular für ein adäquates Verhalten fehlen würde. Die Ausweitung der Maßnahme auf weitere Schüler:innen wird zwar für die Zukunft angekündigt, zunächst geht es  jedoch ausschließlich um die neu Zugewanderten. Unsere Erfahrungen im Schulalltag zeigen hingegen, dass es genauso Fehlverhalten von Kindern und Jugendlichen gibt, die der deutschen Sprache mächtig sind. Manche Geflüchtete und Zugewanderte fallen durch besonders höfliches Verhalten auf oder wundern sich ihrerseits über respektloses Verhalten von Schüler:innen an deutschen Schulen gegenüber Lehrkräften, das sie bisher so nicht kannten. Schlechtes Verhalten mit fehlenden Sprachkenntnissen gleichzusetzen, ist aus unserer Sicht diskriminierend.

Einen Lehrplan für den neuen Werteunterricht, der zum Politik-, Gesellschaftslehre-, Ethik- oder Religionsunterricht passen würde, gibt es bisher nicht. Dabei müsste berücksichtigt und anerkannt werden, dass Migrant:innen bereits eigene Erfahrungen und Wertvorstellungen mitbringen. Laut der Hinweise und Anregungen des Bildungsministeriums, die dazu an die Schulen versendet wurden, soll den Schüler:innen beigebracht werden, "Danke und Bitte" zu sagen oder - für Fortgeschrittene - Kants kategorischer Imperativ nahegebracht werden. Die angeführten Beispiele zeigen Migrant:innen vornehmlich als Bittsteller:innen. In den Hinweisen des Ministeriums heißt es: „Da geht es um das höfliche Vortragen einer Entschuldigung und das freundliche Einbringen einer Bitte“. Es ist sicherlich kein Fehler, wenn Schüler:innen auch das lernen. Die Auswahl fällt jedoch auf. Es geht dabei nicht um die Entwicklung eigener Ideen und Vorstellungen der Schüler:innen, die in einer demokratischen Schule eingebracht werden könnten. 

Die Vermittlung von Werten ist Teil des Erziehungsauftrags in den hessischen Schulen. Diese wichtigen Themen werden durch das Vorleben der Lehrkräfte und das tägliche Miteinander gelernt und geübt. Dass Lehrkräfte nun monatlich dokumentieren sollen, wie viele Minuten ihrer Unterrichtszeit sie der Wertevermittlung gewidmet haben, wird von den betroffenen Lehrkräften nicht als Unterstützung aufgefasst, sondern als ungerechtfertigte Kontrolle. Weder die Schulleitungen noch die betroffenen Lehrkräfte wurden in die Entwicklung und Planung des Vorhabens eingebunden. Es ist auch nicht hilfreich, nach dem Beginn des Schuljahres Inhalte von oben herab zu verordnen, wenn alle Planungen bereits erfolgt sind. 

Die zusätzlichen Inhalte sollen im Rahmen des Deutschunterrichts vermittelt werden, ohne dass die Schulen weitere Stundenzuweisungen vom Bildungsministerium erhalten. Dies bedeutet zwangsläufig, dass der eigentliche Deutschunterricht darunter leidet und führt zu einer weiteren Verschlechterung der Bedingungen, nachdem bereits die Schüler:innenzahlen in den Intensiv- und InteA-Klassen erhöht wurden. So gelingt aus unserer Sicht keine langfristige Integration in Schule und Alltag. Vielmehr erweckt die Maßnahme eher den Eindruck des politischen Aktionismus populistischer Prägung, der von Vorurteilen gegenüber Geflüchteten geprägt ist und von den getroffenen Einsparungen ablenken soll. Deshalb fordert die GEW die hessische Landesregierung auf, den Werteunterricht in dieser Form auszusetzen

Martin Einsiedel, Robert Hottinger und Katja Pohl

für die Kreisverbände der GEW Groß-Gerau und Main-Taunus